Hofesh Shechter: Feuerwerk am Abgrund – eine Kurzkritik

Hofesh Shechter Company in München
Foto: © Rahi Rezvani

Die Londoner Tanzkompanie Hofesh Shechter gastierte mit ihrer Performance „Grand Finale“ im Muffatwerk (Kurzkritik)

Gleich vorneweg: Trotz Untergangsszenarien und Menschheitsdämmerung, die „Grand Finale“ thematisch dominieren: man täte dem Choreografen Hofesh Shechter Unrecht, wollte man sein aktuelles Stück lediglich auf Dunkelheit und Pessimismus reduzieren.

Die gewohnt hohe Energie der Performances des in London beheimateten Tanzensembles – präziser wie aufgeladener Tanz sowie Musik mit Dynamik und Lautstärke bis zur Schmerzgrenze – bildet auch in der aktuellen Produktion den Rahmen. Und zwar auf beiden Seiten – dem Anlass entsprechend Moll-lastig. Aber eben auch – kurz und fragil – in Dur.

Sechs Musiker und neun Tänzer wandeln hart am Abgrund. Harmonie schlägt in Uniformität um, Individuen verschmelzen und bekämpfen sich im nächsten Moment bis zur Erschöpfung. Würde verwandelt sich in Egoismus, Fröhlichkeit greift um sich und entartet in exzessive Gewalt.

Dazwischen eingestreut: Momente der Hoffnung, der Menschlichkeit und pure Lebensfreude. An Orten und in Situationen, die hierfür nur einen Anlass nahelegen: den Lebenswillen unserer Spezies. Das sprichwörtlich Gute im Menschen, das bei aller Dominanz der dunklen Lebenswirklichkeiten nie ganz erlischt.

So setzt hie und da ein zartes Wehen der Leiber ein, wo sich eben noch Leichenberge türmten. Gleich darauf allerdings sinken die Gestalten wieder erschöpft darnieder, raffen sich maschinenartig mit unmenschlicher Kraft wieder auf, werden hinweg geschleppt oder wieder aufgerichtet. Wie Seegras wiegen sich die Tänzer kurzzeitig in Gleichförmigkeit, ehe erneut alles im Chaos versinkt, auseinanderdriftet oder wie mit roher Gewalt – von Choreografenhand oder höhreren, dunklen Mächten – zersprengt wird.

Hunderte ausdrucksstarker Bilder lagern sich im Laufe der knapp zweistündigen Vorstellung übereinander. Die große Kunst des Choreografen zeigt sich darin, dass der Bildersturm funktioniert. Die Eindrücke löschen sich nicht gegenseitig aus, seine Botschaft Choreografen an uns wirkt, nistet sich ein und setzt sich im Unterbewusstsein fest: die Welt ist, allem Fortschritt zum Trotz, ein insgesamt dunkler Ort. Mehr Schatten als Licht. Was also an diesem Abend in der Muffathalle insgesamt düster daherkommt, zeichnet ein treffliches, weil realistisches Spiegelbild vom Zustand unserer Welt.

Währenddessen peitscht der Sound weiter und ebbt nur hie und da ab. Wie im richtigen Leben sind die wahren Glücksmomente von kurzer Dauer. Dann regnet es wechselweise schillernde Seifenblasen auf die Bühne oder süße Walzermusik tönt hart an der Grenze zum Kitsch. Schnell holen uns Hofesh Shechter und sein Ensemble dort allerdings wieder ab, ehe wir uns gemütlich einrichten können. Und lassen das Publikum weiter in ihr Panoptikum des Grauens blicken. Ein ganzer Alptraum von Gemälden à la Bosch fällt den Betrachter an, mit all seinen beängstigenden Details.

Die Mauer muss weg!
Im zweiten Teil des Abends brennt sich eine Szene besonders nachdrücklich ein. Ausgelassene Musik und Tanz regieren für eine geraume Weile das Geschehen auf der Bühne. Aber auch diese Stimmung kippt unweigerlich.

Die Kulissenelemente verdichten sich zu einer unüberwindlichen Mauer. Man denkt unwillkürlich an die bereits zu Staub zerbröselte Berliner Mauer und die (noch) nur in den größenwahnsinnigen Fantasien des amerikanischen Präsidenten existierende Abschottungspläne am Rio Grande.

Gemeint ist aber wohl doch die Mauer, mit der Israel sich von seinen Nachbarn separiert. Wer hier ausgesperrt oder eingesperrt ist: egal. Dem Choreographen gefällt sie – wie so vieles an dieser Welt – sicher nicht.

Die Mauern rücken vor, die Enge wird klaustrophobisch. Hofesh Shechter hat seinem Heimatland schon lange den Rücken zugekehrt. Allen anderen Mauern der Welt, realen wie fiktiven, steht er genauso ohnmächtig gegenüber wie wir alle. Sein Beitrag dagegen besteht in seinem präzisen Blick und seinem choreografischen Geschick, mit dem er uns diese Grenzen mit seinen Mitteln nochmals deutlich aufzeigt.

Wo bitte ist hier der Notausgang?
Irgendwann scheint die Menschheit, scheinen die Tänzer endgültig in die Sackgasse geraten zu sein. Sie drängen sich in eine Aussparung der mobilen, zusammengeschobenen Mauerkulissen-Elemente. Restlos erschöpft, verzweifelt. Das Ende?

Gerade als man denkt, hier ist Schluss, ein Weiterkommen ist unmöglich, öffnet sich ein Spalt und gibt einen Weg frei. Dahinter dichter Nebel. Ob es dort eine Zukunft gibt, bleibt ungewiss. Aber zumindest bleibt ein Rest Hoffnung. Vorhang, frenetischer Applaus.
In diesem Moment gibt Hofesh Shechter die Wirklichkeit, die er so eindrücklich zeigt, zurück an uns, sein Publikum.

Ihr seid dran, macht was! Mit oder ohne Hoffnung.

(Autor: Ulrich Stefan Knoll )