Gewalttaten an Kindern und Jugendlichen – „Die steigenden Zahlen sind unerträglich“

Gewalttaten an Kindern und Jugendlichen - „Die steigenden Zahlen sind unerträglich“
Symbolbild

Mehr Fälle von Misshandlungen und Kindesmissbrauch und ein starker Anstieg der Kinderpornografie: Das geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik 2020 hervor. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Rörig, fordert, dem Thema höhere Priorität beizumessen. Die wichtigsten Erkenntnisse im Überblick.

Die Polizei in Deutschland hat im vergangenen Jahr erneut mehr Fälle von Kindesmissbrauch und von Misshandlungen Schutzbefohlener registriert. Das geht aus Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik hervor. Der Präsident des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, und der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, stellten die Zahlen zu Gewalttaten an Kindern und Jugendlichen am Mittwoch in einer Pressekonferenz vor. 

Wie sehen die Zahlen zu Gewalttaten an Kindern konkret aus?

Insbesondere bei den Zahlen zu Kinderpornografie gibt es eine deutliche Steigerung.

Laut Polizeilicher Kriminalitätsstatistik sind im Jahr 2020

  • die Fälle von Kinderpornografie auf 18.761 Fälle (+ 52 Prozent) stark angestiegen;
  • 152 Kinder sind gewaltsam zu Tode gekommen, die meisten von ihnen jünger als sechs Jahre;
  • 4.918 Fälle von Misshandlungen Schutzbefohlener registriert worden (+10 Prozent),
  • sowie 14.500 Fälle von Kindesmissbrauch (+ 6,8 Prozent).

„Die steigenden Zahlen sind unerträglich“, betonte Rörig. Hinter diesen Zahlen stehe „10.000-faches Leid von betroffenen Kindern und Jugendlichen“. Zumal die Zahlen ja nur das Hellfeld beleuchteten und das Dunkelfeld riesig sei.

Holger Münch sagte bei der Vorstellung der Zahlen, dass die überwiegende Anzahl von Straftaten gegen Kinder im privaten Umfeld geschähe. Darum sei „jeder Einzelne von uns“ aufgefordert, wachsam zu sein und Verantwortung zu übernehmen.

Jedes Jahr gibt die Polizeiliche Kriminalstatistik einen Überblick über die der Polizei bekannt gewordenen Straftaten aus dem vorherigen Jahr. Insgesamt ist die Zahl der Straftaten in Deutschland rückläufig. Dieser Trend setzte sich zum vierten Mal in Folge auch 2020 fort. Das trifft allerdings nicht auf die Zahlen kindlicher Gewaltopfer zu. Insbesondere bei den Zahlen zu Kinderpornografie gibt es eine deutliche Steigerung.

Gibt es einen Bezug zur Corona-Pandemie?

Einen direkten Zusammenhang zwischen den gestiegenen Fallzahlen und der Pandemie herzustellen, sei schwierig, so Münch. Zum einen ereigneten sich nicht alle Taten im vergangenen Jahr, da die Statistik die Fälle erst zu dem Zeitpunkt erfasst, an dem die Polizei ihre Bearbeitung abschließt. So sei mehr als ein Viertel der erfassten Straftaten nicht 2020, sondern bereits davor geschehen.

Die meisten Taten geschähen aber im privaten Umfeld und blieben meistens im Dunkeln. Die Einschränkungen infolge der Pandemie – geringere soziale Kontrolle sowie gestiegener Stress – könnten Täter begünstigen, so Münch. „Wir wissen bisher nicht, ob die Beschränkungen durch Corona zu einer weiteren Ausweitung geführt haben“, schränkte er ein. Dies war von vielen Kinderschützern seit Monaten befürchtet worden.

Starker Anstieg bei Fällen von Kinderpornografie

Die Fälle von Kinderpornografie sind besonders stark angestiegen, um 53 Prozent. Durch Lockdown, Homeschooling und weniger Freizeitaktivitäten seien die Kinder den Gefahren im Internet vermehrt ausgesetzt, erläutert Münch. Gleichzeitig seien auch mehr Täter durch den Lockdown im Netz aktiv. Außerdem beobachtet das Bundeskriminalamt den Trend, dass vor allem Kinder und Jugendliche selbst über ihre Smartphones immer häufiger kinder- und jugendpornografische Bilder teilen. Ihnen sei die Strafbarkeit häufig nicht bewusst. Ihre Anzahl hat sich seit 2018 mehr als verfünffacht. 

Münch geht davon aus, dass man auch in Zukunft mit steigenden Zahlen rechnen müsse. Zum einen gebe es eine engere internationale Zusammenarbeit der Strafbehörden. Zudem gebe es bessere technische Verfahren, zur Erkennung entsprechender Dateien im Netz und ab Anfang nächsten Jahres müssten Anbieter sozialer Netzwerke in Deutschland (möglicherweise) strafbare Inhalte an die Behörden weiterleiten. Zum anderen wurden Ermittlungsbehörden in den Bundesländern auch aufgestockt, wodurch mehr Täter ermittelt werden konnten.

Rörig betonte, dass der Staat auf die gestiegenen Zahlen bei Online-Kinderpornografie reagieren müsse: Es brauche „Kompetenzbündelungen bei den Staatsanwaltschaften“ und eine „massive Personalaufstockung bei Polizei und Justiz“, so Rörig. „Ermittlungen dürfen nicht daran scheitern, dass Durchsuchungsbeschlüsse nicht vollstreckt und Datenträger nicht ausgewertet werden oder tausende Akten bundesweit auf Halde liegen“, so Rörig. Vor allem aber sei es wichtig, dass die Politik den Kampf gegen sexualisierte Gewalt an Kindern „ganz nach oben auf die politische Agenda“ setze. 

Was unternimmt die Bundesregierung zum Schutz der Kinder?

Die Bundesregierung ist seit Jahren stark engagiert, um Kinder und Jugendliche besser vor sexueller Gewalt jeglicher Art zu schützen. Dabei sind die Empfehlungen des Runden Tischs „Sexueller Kindesmissbrauch“  und der Aktionsplan der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt und Ausbeutung weiterhin eine wichtige Grundlage.

Unter anderem hat die Bundesregierung das seit 2010 bestehende Amt des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs dauerhaft eingerichtet. So wird auf Bundesebene ein starkes, dauerhaftes Engagement gegen sexualisierte Gewalt sichergestellt. Auch die Arbeit des Betroffenenrates ist verstetigt worden. Zudem wurde die Tätigkeit der Unabhängigen Aufarbeitungskommission verlängert.

Darüber hinaus hat die Bundesfamilienministerin gemeinsam mit dem Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten im Dezember 2019 einen neuen „ Nationalen Rat“ eingerichtet. Die Mitglieder wollen bis Sommer 2021 Vorschläge erarbeiten, wie Prävention und Hilfen bei Missbrauch spürbar verbessert werden können.   

Dem Internet kommt bei Fällen von Kindesmissbrauch und Kinderpornografie eine immer entscheidendere Bedeutung zu. Im letzten Jahr ist ein Gesetz in Kraft getreten, das den Versuch der Kontaktanbahnung, das sogenannte Cybergrooming, unter Strafe stellt. Dadurch können Täter intensiver verfolgt werden, die im Netz den Kontakt mit Kindern suchen und dabei das Ziel verfolgen, sie sexuell zu missbrauchen oder Kinderpornografie herzustellen. 

Zudem hat erst Anfang dieses Monats einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung von sexuellem Missbrauch gebilligt. Damit werden das Strafrecht verschärft und die Aufklärung von Straftaten verbessert. Das Gesetz tritt zum 1. Juli in Kraft.

Welche Hilfs- und Beratungsangebote gibt es?

Das „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“ ist ein kostenloser und anonymer Service. Unter der Nummer 0800 22 55 530 wird Hilfe für von sexueller Gewalt Betroffene sowie für Angehörige angeboten. Derzeit arbeiten bei dem Hilfetelefon mehr als 20 Beraterinnen und Berater. Sie alle sind psychologisch und/oder pädagogisch ausgebildete Fachkräfte mit jahrelanger Erfahrung in der Beratung und Begleitung bei sexuellem Kindesmissbrauch. 

Ein weiteres Angebot ist die „Nummer gegen Kummer“: Kinder und Jugendliche erhalten unter der Nummer 116111 kostenlos und anonym Hilfe. Eltern können bei Sorgen um ihr Kind die Hotline 0800 111 0 550 anwählen. 

Die Internetseite www.kein-kind-alleine-lassen.de bündelt Informationen zu Beratungsangeboten. Hierbei handelt es sich um eine Initiative des Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung.