Warum ich kein „Hobo“ mehr bin – Sänger Charlie Winston im Interview

Mit seinem Hit „Like a Hobo“ startete er europaweit durch, sein Ruf als „Landstreicher“ und Freigeist eilten ihm schnell voraus. Besondere Aufmerksamkeit erlangt er derzeit durch das Video zur neuen Single „Lately“, in dem ein unheimlicher Tänzer durch einen Konzertveranstaltungsort jagt und das Publikum zur Strecke bringt.

Mit seinem neuen Album „Curio City“, das Anfang Januar 2015 erscheinen wird, beschreitet Charlie Winston nun neue Pfade. Im Interview verrät er uns, wie er sich persönlich weiterentwickelt, warum er sein Landstreicher-Leben aufgegeben und neue musikalische Töne angeschlagen hat.

SC: Herzlichen Glückwunsch zu Deinem Video zu Deiner neuen Single „Lately“. Auf Facebook habe ich gesehen, dass Deine Fans sehr unterschiedlich auf die Handlung des Videos reagieren: manche empfinden es als „verstörend“, andere wiederum lieben es. Wie fühlt es sich an, solch kontroverse Reaktionen auf Deine Arbeit zu bekommen?

CW: Ich finde es gut, denn es bedeutet, dass mein Video einen gewissen künstlerischen Wert hat! Keiner der Leute hat gesagt, dass das Video Mist ist oder keine Substanz hat. Die Reaktionen auf das Video kamen ja alle sehr spontan und emotional – wenn mein Video also bestimmte Emotionen hervorruft und die Menschen gefühlsmäßig stimuliert, dann bedeutet das für mich, dass ich meinen Job gut mache. Außerdem stachelt es viele Konversationen an – und das finde ich besonders toll, denn genau das wollte ich bezwecken. Das Ganze ist quasi ein Dialog der Köpfe, und es stimuliert die Gedanken.

SC: Als Künstler reicht es mittlerweile nicht mehr, nur gute Musik zu machen, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu erlangen. Fachleute in der Marketing-Industrie machen sich hier ein Tool zunutze, dass sie als „Inszenierten Skandal“ bezeichnen – dies kann beispielsweise ein besonders anstößiges Plattencover sein, mit dem man Aufsehen in den Medien erregt. Gab es Gedanken in diese Richtung, als Du das Video zu „Lately“ produziert hast, oder war es einfach nur eine künstlerische Entscheidung, einen kleinen „skandalösen“ Beigeschmack hinzuzufügen?

CW: Ich persönlich würde die Worte „Skandal“ oder „Inszenierter Skandal“ in diesem Zusammenhang nicht benutzen, denn dies würde ja suggerieren, dass ein gewisser Vorsatz dahinter steckte. Für mich hatte es mehr mit der Herausforderung zu tun, mit einem neuen Publikum zu kommunizieren und dadurch neue Leute zu erreichen.

Mir musste klar sein, keine Angst davor zu haben, möglicherweise einige meiner Fans zu verlieren. Ich habe bereits zwei Alben produziert und bin sehr glücklich darüber, mit diesen Alben so viele Menschen erreicht zu haben. Mein Ziel war es, etwas Neues auszuprobieren. Natürlich wollte ich meine Fans mit mir mitnehmen und mitreißen – aber eben auch eine neues Publikum ansprechen. Im Zuge dessen hatte ich aber auch zu akzeptieren, dass ich einige meiner Fans verlieren könnte. Und das ist okay! Ich musste dem neuen Universum des Albums „Curio City“ einfach treu bleiben – und das war mir wichtiger, als der Versuch, der gleiche Künstler wie zuvor zu bleiben.

SC: Als ich Dein Video gesehen habe, war ich hin und her gerissen. Man könnte es so beschreiben: ich war verliebt in den Tänzer, aber gleichzeitig hatte ich auch Angst vor ihm …

CW: Super! Das ist genau das, was ich erreichen wollte!

SC: Meine Frage lautet daher: Hat „Leidenschaft“ (so, wie der Tänzer in Deinem Video hingebungsvoll tanzt) immer etwas mit Aggression zu tun?

CW: Interessante Frage. Ja – wenn wir von Leidenschaft auf einem kreativen Level sprechen – und ich spreche jetzt hier nicht nur vom künstlerischen Aspekt, sondern davon, kreativ zu leben. Im Grunde musst du im Laufe Deiner Schaffensphase etwas Schönes zerstören, um es wieder neu erschaffen zu können. Auf eine gewisse Art und Weise gehen Leidenschaft und Aggression für mich also schon Hand in Hand. Ich würde es als „positive Wut“ bezeichnen; genau diese Wut oder diesen Ärger muss man dann positiv kanalisieren. Die Handlung im Video man kann sehr wohl metaphorisch, im übertragenen Sinne sehen: der Tänzer zerstört sein altes Ich, um ein neues Ich erschaffen zu können. Interessant ist, dass der Tänzer im Video und ich uns ziemlich ähnlich sehen – man weiß also nicht, ob es sich nicht sogar um die gleiche Person handelt. Daher vielleicht auch die Überlegung, dass er mein altes Ich umbringt, um mich neu zu erschaffen.

SC: Dein Album „Curio City“ wird im Januar nächsten Jahres erscheinen. Hast Du einen Lieblingssong auf dem Album?

CW: Alle Songs bedeuten mir etwas – von dem Blickpunkt aus, an dem ich jetzt gerade in meinem Leben stehe, würde ich sagen, ist es mein persönlichstes Album bisher.
Wenn ich einen Song nennen soll, der repräsentativ für die Vision des Albums steht, dann würde ich meine erste Single „Lightly“ anführen. Als mein Label verkündete, dass sie diesen Song als erste Single veröffentlichen werden, war ich ziemlich happy darüber.
Der Song „Wilderness“ bedeutet mir auch sehr viel; genauso wie das Lied „True“, in dem ich mich selbst daran erinnere, ehrlich zu mir zu sein. Ich könnte aber keinen der Songs als meinen Lieblingssong bezeichnen; mein Ziel war es, ein Album zu produzieren, auf dem jeder Song viel Tiefgang hat sowie stark und aussagekräftig ist.

SC: Der Sound Deines neuen Albums ist viel elektronischer. Warum bist Du nicht bei deinem alten, natürlicheren Sound geblieben?

CW: Ich wollte mich einfach weiterentwickeln, und ich wollte eine neue klangliche Landschaft erkunden. Mein erstes Album „Hobo“ war wie ein Tribut an all die Einflüsse, die ich von der Generation meiner Eltern gelernt habe; es war ziemlich „vintage“, angelehnt an die 50er, 60er und 70er Jahre, orientiert an den fabelhaften Sängern dieser Zeit, die mich sehr beeinflusst haben. Mein zweites Album erinnert sehr an die Einflüsse meiner Jugendzeit, in der ich die Red Hot Chilli Peppers, die Beastie Boys und allgemein viel Punk-Rock und Hip Hop gehört habe.

Bei dem neuen Album hatte ich nun das Gefühl, dass ich all das nicht noch einmal machen könnte. Also habe ich mir überlegt: wie sieht mein Leben jetzt aus? Das Album spiegelt wirklich mein derzeitiges Leben wieder. Auch wenn ich auf dem Land aufgewachsen bin, bin ich nun einfach kein Kind vom Lande mehr. Ich bin jetzt in der Stadt angekommen. Wenn ich die eine Stadt verlasse, dann reise ich weiter in ein anderes Land und eben eine andere Stadt. Deshalb habe ich mein Album auch „Curio City“ genannt – es handelt von mir und meiner Neugier auf mein neues Leben in der Stadt. Und die Einflüsse der Stadt sind nun mal eben sehr elektronisch. Das Ganze hat sich wie eine sehr natürliche Entwicklung meiner Musik angefühlt.

SC: Beschreibe Dein Album in drei Worten.

CW: Zeitgenössisch. Landschaft. Bladerunner  – der Film. Irgendwie fühlt es sich an wie ein zeitgenössischer Bladerunner durch die Landschaft.

SC: Ich denke, über Deinen Nummer-1-Hit „Like a Hobo“ und Deine damit verbundene Suche nach Glück und Freiheit wurde schon alles gesagt. Haben denn Dein Erfolg und auch das Geld, das Du damit verdient hast, dazu beigetragen, Dein Leben und Deine Vorstellungen von Freiheit zu perfektionieren?

CW: Interessant. Hm. Es hat neue Fragen in Bezug auf Glück, Zufriedenheit und Sicherheit aufgeworfen. Einige der Songs auf meinem neuen Album sprechen genau diese Thematik an: was ist Sicherheit und wie schnell verändert sich unser Sicherheitsdenken, wenn wir erfolgreicher oder auch bequemer werden.
Schau, ich habe mir vor zwei Jahren ein Haus gekauft und bin nach London zurückgekehrt. Ich habe mein eigenes Studio im Keller – das ist wirklich ein tolles Gefühl! Aber es war auch komisch für mich, denn ich habe davor ja wirklich wie ein Landstreicher gelebt. Plötzlich hatte ich diese vier Wände um mich herum und jede Nacht das gleiche Bett … und es war anfangs auch echt merkwürdig, sich daran zu gewöhnen, Nachbarn zu haben.

SC: Genau damit hat meine nächste Frage zu tun: gibt es Momente in Deiner Karriere, in denen Du gerne wieder einfach der Typ mit der Gitarre wärst, der tun und lassen kann, was er gerade will – wann er will?

CW: Nein. Einfach, weil ich all diese Dinge bereits gemacht habe. Ich habe so gelebt, weil ich mir auch irgendwie selbst etwas beweisen wollte. So ganz genau weiß ich gar nicht, was es war – vielleicht wirklich die Suche nach Freiheit; der Wunsch, das alles einmal erlebt zu haben, ohne Besitz, ohne Regeln. Aber diese Person bin ich einfach nicht mehr. Ich bin kein Landstreicher mehr – und ich will auch nicht so tun oder die Menschen glauben lassen, ich wäre noch so.

SC: Du vermisst es also nicht?

CW: Nein. Egal, wie Du Dein Leben lebst, Du hast immer einen gewissen Preis dafür zu zahlen. So frei zu leben, wie ich es getan habe, bringt Dir natürlich ein gewisses Glück; Du hast beispielsweise nicht so viele Verantwortungen zu tragen wie andere Menschen. Es ist also Freiheit, aber der Preis, den du dafür zahlst, ist die Einsamkeit. Ich hatte nie ein Zuhause, um ein Maß an Sicherheit zu finden. Als meine Familie bezeichnete ich einige Freunde, die in der ganzen Welt wie Lion, New York, L.A.  oder Brüssel verstreut sind. Um also dieses Gefühl von „Zuhause“ zu erleben, reiste ich an alle diese Orte, um diese Menschen zu besuchen und mich von innen wärmen zu lassen. Manchmal ist das ständige Reisen auch anstrengend, denn Du führst mit den Menschen die immer gleichen Gespräche. Klar, Du bekommst durch das Reisen viele Anregungen und nimmst viele Reize in Dir auf – aber es gibt diese Momente, in denen ich eben einfach nur daheim sein will.

SC: Wie schreibst Du denn Deine Songs? Sind das spontane Eingebungen, oder sperrst Du Dich dann in Deinem Zuhause für Tage, Wochen oder Monate ein?

CW: Ja, eigentlich ist es schon mehr so, dass ich mich „wegsperre“. Das neue Album zu schreiben, war sowieso ein wenig anders. Früher habe ich viele Songs geschrieben und für das jeweilige Album dann meine Lieblingssongs aus meiner Sammlung herausgesucht. Aber diesmal hatte ich eine so klare Vision von dem Sound, den ich auf meiner Scheibe haben wollte – also sagte ich zu mir selbst: wenn ich damit beginne, einen Song zu schreiben, dieser dann aber nicht in den Sound oder die Stimmung für das Album passt, dann schreibe ich ihn einfach nicht weiter. Also habe ich in der letzten Zeit effektiv wirklich nur die Songs geschrieben, die nun auch auf meinem Album zu hören sind. Tja, letztlich war das Szenario wirklich so: ich, nur mit mir selbst, alleine, mit einem Klavier und einer Gitarre, wie ich qualvoll und unter Schmerzen meine Songs schrieb (lacht).

SC:
Wahrscheinlich wird Dir diese Frage oft gestellt: welche Tipps oder Ratschläge hast Du für Newcomer oder Künstler, die noch keinen Plattenvertrag haben?

CW: Mein Rat ist eigentlich immer der gleiche: Hab keine Angst davor, Dir Zeit zu nehmen, um etwas Einzigartiges zu entwickeln und wachsen zu lassen; aber schrecke auch nicht vor harter Arbeit zurück. Wenn Du wirklich an Deine Sache glaubst, dann musst Du wirklich jeden Tag arbeiten. Und wenn Du gut sein willst in dem, was Du tust, dann musst Du auch wirklich HART arbeiten. Denn wenn Du dann mal tatsächlich Erfolg haben solltest mit dem, was du tust, und Du hast vorher nicht all diese Stunden der harten Arbeit hineingesteckt, dann fangen die Leute auch ganz schnell an, Fehler zu suchen.

S. Chmiel & Charlie Winston
S. Chmiel & Charlie Winston

Im anschließenden Showcase bei Sony in München stellte Charlie Winston außerdem unter Beweis, dass sich auch ein Besuch eines seiner Live-Konzerte lohnt. Winston bestach mit tollen Melodien, einer einzigartigen Stimme und dem Charme eines „boy next door“. In Begleitung zweier Musiker spielte er alte Songs sowie Lieder seines neues Albums und machte deutlich: die harte Arbeit am Album hat sich gelohnt. Der Vorgeschmack macht durchaus Lust auf „Curio City“. (S. Chmiel)