Deep-Purple-Sänger Ian Gillan: Über Rock’n’Roll, Drogen und darüber, dass Tony Blair eigentlich im Gefängnis sitzen sollte

Foto: Bob Mussell KF

Am 31.03.2015 findet in München die Show „Rock Meets Classic“ statt. Auf der Bühne wird auch Ian Gillan, Rocklegende und Sänger der Band „Deep Purple“, zu sehen sein.

Spektakulär wird allerdings das DEEP PURPLE Konzert am 26.11.2015 in der Olympiahalle München.

Wir treffen uns im Münchner Hilton Hotel am Flughafen zum Interview. Die Türe geht auf, gleich treffen wir eine der ganz großen Legenden der Rockmusik. Die Klimaanalage läuft auf Hochtouren, das Hotelzimmer ist unerwartet aufgeräumt. Der seit 45 Jahren amtierende Rockstar empfängt uns leger in Jogginghose und mit unfrisierten Haaren – für diesen Anblick hätten in den 70er-Jahren die meisten Frauen wohl ihren letzten BH geopfert. That’s the Rock’n’Roll way of life! Uns scheint, mit diesem Mann werden wir gleich ein sehr interessantes Gespräch führen. Die passenden Fragen zum neuen Deep Purple Album, zu seiner wilden Zeit bei Black Sabbath, dem Drogenkonsum in der Hippie-Zeit und seine Meinung zu Barack Obama und dessen Politik liegen bereit.

Bevor Du im November mit DEEP PURPLE unter anderem in der Olympiahalle München zu sehen sein wirst, bist Du Teil der „Rock meets Classic“ Show am 21.03.2015 in München. Was macht dieses Show-Konzept so interessant für Dich? Und was daran bereitet Dir am meisten Spaß?

Mir wurde die Anfrage gestellt, ob ich bei der Show mitmachen möchte, und ich habe sofort „Ja!“ gesagt. Das ganze Konzept der „Classic meets Rock“ Shows ist völlig anders als bei Deep Purple. Mit Deep Purple habe ich jeden Tag Schmetterlinge im Bauch – es hat etwas „Gefährliches“; Du weißt nie, was auf Dich zukommt. Da passiert immer wieder irgendetwas anderes; wir improvisieren viel und jammen die ganze Nacht. „Rock meets Classic“ erinnert mich eher an meine erste Tour, die ich mit Dusty Springfield 1965 gemacht habe: ein kleiner Haufen Sänger singt Lieder, die jeder kennt. Es ist ein wenig so, als würde man zu einer Party gehen: wirklich großer Spaß also. Die Atmosphäre backstage ist hervorragend, weil jeder jeden kennt. Und das Publikum weiß genau, was es erwarten darf. Es ist eine ganz andere Art von Publikum; und sie hören auf diesen Konzerten, was sie hören wollen. Ach, und die Band ist brilliant! Das Orchester ist nicht einfach nur ein normales Orchester – die Jungs und Mädels aus der Band „tanzen“ quasi die ganze Nacht durch. Es ist toll, es macht Spaß – ich habe ja zuvor schon zweimal mitgemacht … und ich liebe es.

Du stehst also auf Klassik?

Klassik? Hm… ich würde es eher als „orchestral“ bezeichnen; nicht unbedingt „Klassik“ … es sind halt gut bekannte Lieder. Ich würde es so interpretieren: „Electric meets orchestral“.

Nach so vielen Jahren auf der Bühne bist Du ja nicht nur eine große Rocklegende, sondern auch ein absoluter Bühnenprofi. Passieren dennoch Dinge auf Tour, die vollkommen neu für Dich sind oder absolut unerwartet daherkommen?

Oh ja, jeden Tag! Du weißt einfach nie, was passieren wird. Manche Dinge weißt Du zwar im Voraus, einfach, weil Du alle Mitwirkenden nach dieser langen Zeit gut kennst … aber Du kannst nie exakt voraussehen, was kommen wird – gerade bei den Shows mit Deep Purple.

Deep Purple ist ja bald auch wieder auf Tour. Auf was dürfen wir uns freuen?

Eigentlich auf das Gleiche wie immer – nur anders. Jede Nacht ist anders. Wir nutzen unser bekanntes Material sozusagen wie ein Gerüst. Die bekannten Songs sind praktisch wie Eltern oder wie große Geschwister für das neue Material. So bekommt das neue Material im übertragenen Sinne „Halt“, „Selbstvertrauen“ und kann sich im Gesamtkontext platzieren. Die Leute wollen gerne das hören, womit sie vertraut sind – das ist ganz normal. Du kannst daher niemals eine Show mit ausschließlich neuen Songs machen.

Gibt es nicht Momente, in denen es wahnsinnig nervt, Eure bekannten und gefeierten Songs andauernd wieder spielen zu müssen?

Nein! Schau, wie viele Lebensmittel es gibt, die zu den Grundnahrungsmitteln zählen. Man isst sie immer und immer wieder – und verändert sie mit verschiedenen Dressings, den unterschiedlichen Beilagen, man stellt Salat dazu, ändert die Umgebung, das Ambiente, die Begleitung … es ist also immer wieder vollkommen anders. Genauso ist es mit der Musik. Jede Show und somit jeder Song wird durch die Leute, das Ambiente, den Veranstaltungsort etc. wieder spannend und neu.

1972 hielt Deep Purple den Rekord als „lauteste Band der Welt“. Wie konntest Du Dich da als Sänger durchsetzen?

Naja, ich war halt immer lauter als der Rest (lacht). Irgendwie war es schon auch ein wenig lächerlich. Und das war zu einer Zeit, als es auch wirklich schmerzhaft war, denn das ganze Equipment war neu.
Keiner spielte zur damaligen Zeit in großen Veranstaltungshallen; keiner hat in Olympiastadien oder –hallen gespielt. Die größten Arenas für Musikshows waren Theater oder Tanzsäle – dort fand die Musik statt. Musik für 10.000 Leute gab es überhaupt noch nicht. Schau, Frank Sinatra, Bing Crosby oder Elvis Presley spielten in Theatern. Als die Beatles daherkamen und in großen Stadien spielten, konnten sie sich selbst nicht hören, denn die Verstärker waren zu klein, die Musik war zu leiste und das Publikum war lauter als die Band. Dann kam Jim Marshall – er war Musiker, aber er hatte auch einen Musikladen in der Nähe meines Haus in West-London; und er hatte einen Techniker, der Ken Flake hieß. Dieser Ken Flake war der Typ, der die ersten Marshall Verstärker baute! … 60 Watt Verstärker – die waren riesig und brauchten große Lautsprecher. Im Grunde war die Technologie sehr simpel, aber es funktionierte. Leider war die Soundqualität nicht besonders gut. Naja … die Gitarrenverstärker waren fantastisch, aber die Stimmverstärker waren fürchterlich. Das tat dann richtig weh in den Ohren. Aber ganz ehrlich: ich habe keinen blassen Schimmer, warum wir die Lautesten waren und vor allem, WIE wir die Lautesten wurden.

Einige aus der Crew wurden aufgrund der Lautstärke sogar ohnmächtig, habe ich gelesen!?

Ich glaube, einige dieser Geschichten könnten vielleicht ein wenig „unwahr“ sein… womöglich. (zwinkert)

Dieses Jahr soll auch Euer neues Album erscheinen. Was können wir erwarten? Und wann?

Wir liegen sozusagen in den Wehen. Man könnte es vielleicht so ausdrücken: das Konzept für das Album steht schon – wir wissen nur noch nicht so genau, wie lange wir das Baby noch „austragen“ müssen, bis es „auf die Welt kommt“. Es ist auf jeden Fall in der Mache. Dieses Jahr? Da bin ich mir nicht ganz sicher. Hoffentlich. Wer weiß. Aber vielleicht zeigen wir schon etwas vom neuen Material auf der Tour – wenn das Baby dann bereits da sein sollte.

Du hast die Zeit der analogen Musikproduktion miterlebt, als alles auf Band aufgenommen und auf Schallplatte gepresst wurde. Heutzutage ist alles digital – und die Kids hören sich nicht mehr ein Album als Ganzes an, sondern ziehen sich lieber lose Audioformate wie mp3’s oder streamen Videos. Was hältst Du von der Art und Weise, wie Musik heute produziert wird – und auch davon, wie die jungen Leute sie konsumieren?

Hm, so gaaaaanz richtig ist das ja auch nicht. Denn analoges Recording wird immer noch recht viel eingesetzt. Aber ja, in Verbindung mit digitalen Aufnahmetechniken – weil halt einiges auf Band eben doch besser klingt. Aber auch in den 60ern haben die Leute sich mal nur einen oder zwei Tracks angehört. Meist haben sie den ersten Song auf der A-Seite und/oder den ersten Song auf der B-Seite angehört; das waren dann auch die Songs, die sich am besten verkaufen ließen und besonders einfach im Radio zu spielen waren. Klar haben wir es jetzt mit einem anderen Medium zu tun, aber das Prinzip ist immer noch das Gleiche. Möglicherweise ist die Idee, ein Album in einem Stück anzuhören, nicht mehr die Gleiche wie früher.

Aber… im Grunde haben wir einfach keine Ahnung von Kommerzialität – die hatten wir nie, die werden wir wohl nie haben und die haben wir auch im Moment nicht. Wir wissen einfach nicht, was die Leute haben wollen…. Und wir als Band kümmern uns auch nicht wirklich drum. Wir zermartern uns nicht den Kopf darüber, was die Leute hören wollen – wir denken einfach nur an unsere Musik. Wir arbeiten, wir schreiben jeden Tag, wir jammen – im Grunde nonstop … bis auf die ein oder andere Kaffeepause vielleicht. Zwei Tage nach solch einer Jam-Session kommt dann einer von uns dann möglicherweise daher und sagt: „Hey, in dieser Session war eine Idee drin! Eine Akkordsequenz, ein Rhythmus oder eine Struktur … das könnten wir doch als Basis für einen neuen Song verwenden!“ Und wenn wir dann eine gute Idee haben, dann haben wir auch Spaß dran, die Songs in ihrer Dauer einfach länger zu gestalten. Die ersten vier Deep Purple Alben enthielten jeweils sieben Tracks. Einige dieser Tracks sind über 10 Minuten lang … so machen wir das einfach. Und so machen wir das auch auf der Bühne. Da sind dann manche Tracks sogar 20 Minuten lang. Wir haben da einfach ein ganz anderes Konzept. Uns geht es um die Live-Performance – und das alles mag im Musikbusiness vielleicht eher befremdlich sein. Wir sind halt immer noch „underground“. Wir passen in keine wirkliche Kategorie.

Nicht nur die Art, Musik zu hören, sondern auch das Musik-Business hat sich verändert. Als Künstler musst Du Co-Marketing mit großen Marken betreiben – und selbst, wenn Du das nicht machen willst, ist es letztendlich die O2-Arena oder ein Stadion, das nach einer Versicherung benannt ist, in der Du Deine Show spielen wirst. Es wirkt, als wollen sich die großen Marken die Ideale der Künstler auf ihre Stirn pinseln. Fühlt man sich da nicht manchmal wie eine Marionette? Und wie kann man das umgehen?

Nein, also für uns spielt das gar keine Rolle. Wir haben keine Sponsoren. Ich denke, die Promoter haben Sponsoren, wenn es um die Konzerte geht – aber das sehe ich immer erst, wenn ich beim jeweiligen Veranstaltungsort ankomme. Wir haben auch kein Pressebüro – Deep Purple ist weltweit die einzige Band, die keine Pressefirma hat! Wir machen das alles nicht, nein … wir machen einfach nur unsere Musik.

Du hast ein wahres „Rock’n’Roll“-Leben geführt … u.a. sagtest Du einmal über Deine Zeit mit Black Sabbath, dass dies die beste Zeit Deines Lebens war. Gibt’s da eine nette Geschichte dazu, warum diese Zeit für Dich so besonders gut war?

Es war die beste Party, auf der ich war! Oder sagen wir es so: es war die längste Party, auf der ich war. Ach, es gibt viele gute Geschichte, aber die würden jetzt den zeitlichen Rahmen sprengen. Einmal bekam ich einen Anruf vom Tourmanager von Black Sabbath, der mir sagte: „Die Polizei ist hier – und wir müssen jetzt SOFORT zum Flughafen aufbrechen. Wenn ich raus schaue, dann sehe ich Zehntausende von Leuten die Straße runter marschieren, die gegen Black Sabbath protestieren! Letzte Nacht kam anscheinend der Erzbischof im Fernsehen, der dazu aufgerufen hat, uns aus der Stadt zu jagen. Er meinte, wir wären anti-christlich, anti-religiös und gegen die Kirche. Dann zitierte er auch noch einen Song. Wir müssen jetzt echt abhauen hier.“ Ich hab dann gesagt: „Der Song, den er zitiert hat, war Disturbing the priest“– den habe ich damals geschrieben. Und dann mussten wir beide sehr lachen, denn der Song hat gar nichts Anti-Christliches oder Anti-Kirchliches in sich. In dem Song geht es nämlich um den Pfarrer aus der Kirche von nebenan. Der kam eines sonnigen Tages zu uns und sagte: „Wir üben uns gerade im schweigen – und es tut uns so leid, aber wir können uns nicht konzentrieren, weil wir Eure schöne Rockmusik die ganze Zeit hören“. Ich sagte: „Oh, das tut uns leid, das haben wir gar nicht überrissen! Das wird nie wieder zu einem Problem, wir schließen die Türe jetzt immer!“ Der Pfarrer meinte dann noch: „Wäre super, wenn wir unsere jeweiligen Übungszeiten einfach aufeinander abstimmen könnten. Aber egal, unsere Schweigeübung ist jetzt eh vorbei, lass uns auf ein Bierchen gehen“. Also bin ich mit dem Pfarrer auf ein Bier gegangen. Das war’s. Danach habe ich dann den Song „Disturbing the priest“ geschrieben – einfach, weil wir den Pfarrer mit unserem Krach gestört haben. Das war alles vollkommen zivilisiert und höflich und freundlich zwischen uns und der Kirche. Die ganze Geschichte hat mich wirklich wahnsinnig amüsiert.

Es scheint so, dass in den Siebzigern so ziemlich jeder Eurer Liga jede Menge Drogen konsumiert hat. Wie habt Ihr das alles überlebt? Noch dazu, wenn man sieht, mit wie viel Power und Energie Ihr nach so vielen Jahres des doch recht harten Lifestyles immer noch auf der Bühne steht.

Nicht jeder hat Drogen genommen. So war das nicht. Ich habe meinen ersten Joint erst mit 38 geraucht. Und ich kenne aus meinem Umfeld auch niemanden, der Drogen genommen hat. Bei Deep Purple hat auch niemand Drogen konsumiert. Naja… wir haben recht viel Bier und Whiskey getrunken …

Und das ist … gut?!

Scheinbar sind Drogen ja auch irgendwie gut…?! Aber wir waren nie in diesen Kreisen oder dieser Gruppe, die das gemacht haben. Ich kannte ein paar Leute, die sich mit Alkohol ziemlich vernichtet haben; die sind dann auch abhängig geworden. Aber bei uns gab es keine Drogen im Publikum, keine Drogen in den Bands – man hat vielleicht mal beiläufig irgendwo was davon mitbekommen. Ein einziges Mal habe ich es wirklich im Publikum riechen können – und das war im Amsterdam. Aber selbst da konnte ich es nicht genau einordnen. Wie wir also überlebt haben? Wir haben ehrlich gesagt nicht wirklich irgendetwas davon gewusst. Ich glaube fest an das, was meine Oma immer zu sagen pflegte: Alles in Maßen. … das ist wirklich cool.

Jimi Hendrix wünschte dem Publikum auf dem Woodstock Festival 1969 „Peace, Love and Happiness“. Im gleichen Jahr gab John Lennon seinen Orden „Order of the British Empire“ an die Queen zurück – wegen Englands Verwicklung in den Nigerianischen Bürgerkrieg und seiner Unterstützung Amerikas im Vietnam-Krieg. Im Gegensatz dazu spielte Paul McCartney erst kürzlich im Weißen Haus für Barack Obama – der mit seiner Drohnen-Kampagne und seiner Verstrickung in Kriege das internationale Kriegsvölkerrecht verletzt und daher getrost als Kriegsverbrecher bezeichnet werden kann…

Wer ist ein Kriegsverbrecher?

Ich denke, Barack Obama mit seiner Drohnen-Kampagne und seinen Kriegen ist ein Kriegsverbrecher.

Welche Kriege? Für welchen Krieg ist er verantwortlich?

Da gibt es viele! Irak zum Beispiel, und …

Er war nicht im Amt, als der Krieg dort begann!

Ja, aber er setzt ihn fort…

Ja, sobald der Krieg einmal begonnen hat, ist es sehr schwer, wieder rauszukommen, weil man sich um seine eigene Wahrheit kümmern muss. Ich zum Beispiel glaube, Tony Blair sollte wegen dem, was im Irak passiert ist, im Gefängnis sitzen. Politik und Kultur sind sehr schwierige Angelegenheiten… was mit Gaddafi passiert ist, was mit Hussein passiert ist, das ist vor allem das Ergebnis von Dummheit, weil man die Infrastruktur eines Landes zerstört, ohne darüber nachzudenken, was danach kommen wird. Das ist absolut abscheulich! Da wir viel unterwegs sind, kenne mich ein bisschen besser damit aus, was in Wirklichkeit vor sich geht. Es interessiert mich nicht, nachzuvollziehen, was andere tun. Was aber auch nicht heißt, dass ich sie unterstütze. Wenn ich mich an meinen persönlichen Glaube halten würde, nach dem Tony Blair im Gefängnis sitzen sollte, dann dürfte ich in England nie wieder arbeiten. Aber ich kann das nicht als eine Entschuldigung vorwegschieben, um nicht oder eben doch zu arbeiten.
Ich habe gestern mit einem meiner Freunde aus Gambia gesprochen, dessen Cousin für Gaddafi gearbeitet hat. Die hatten eine Pan-Afrikanische Organisation, die Öl-Geld aus Libyen an all die armen Ländern Afrikas gegeben hat. Diese Organisation haben sie unterstützt, um Trinkwasser herzustellen und Häuser, Schulen, Krankenhäuser und Straßen zu bauen. In dem Moment, als in Libyen einmarschiert wurde, ist kein Geld mehr geflossen, und in Gambia wurde das ganze Geld gestohlen. All den Ländern blieb also rein gar nichts mehr. Das alles sind sozusagen die Folgen unseres Handelns. Ich habe zu dieser Thematik auch schon einige Texte verfasst…
Und ich bin von Putin fasziniert, wie er von Anfang an jeden ausgetrickst hat … was aber auch nicht heißt, dass ich dem zustimme oder gegen das bin, was er tut.

Ich war z.B. in Machatschkala und habe dort mit den Kosakenstämmen gesprochen. Die Machatschkala und die Ostukrainer waren im Krieg. Dieses Land ist nur 30 Jahre alt, es hat vorher nicht existiert! Und sie waren 800 Jahren lang mit den Kiew-Kosaken im Krieg. Die sprechen russisch und auch verschiedene andere Sprachen, sie haben verschiedene Kulturen und jeder eine andere Geschichte… was passiert ist, kann man fast als natürliche Evolution bezeichnen. Selbst wenn es gar keine Politiker dort gäbe, wäre es trotzdem passiert – weil sie niemals vorher ein geeintes Volk waren. Dasselbe passiert im Nahen Osten … wir denken einfach nicht zu Ende, was in der Welt vor sich geht. Aber … was war eigentlich Deine Frage? (lacht)

Ich wollte fragen, was mit den Idealen und dem Geist von 1969 passiert ist…

Naja, ich habe ja gerade erklärt, wie fragwürdig all diese Entwicklungen sind, und wie ich über die Politik gerade denke. Das ist die Antwort auf Deine Frage. Durch meine persönlichen Erfahrungen bin ich in die täglichen Geschehnisse jedes Landes irgendwie eingebunden und bekomme mit, was vor sich geht… ich verstehe die chinesische Kultur und ihr Verlangen, Tumulte zu vermeiden. Ich verstehe, was das Verneigen in Japan bedeutet und dass es sich dabei nicht um Unterwürfigkeit handelt, wie wir es zu viktorianischen Zeiten in England immer dachten, sondern dass es dabei um Bescheidenheit geht. So sind die Kulturen eben verschieden – und wir sollten tief durchatmen und das alles ein wenig mehr respektieren. Eigentlich sind wir alle wie Stammesgemeinschaften; das können wir irgendwie nicht verleugnen und wir können dem auch nicht entfliehen … egal wie viel Demokratie man den Leuten auferlegt.

Es gibt da eine berühmte, passende Geschichte über einen Doktor in Afghanistan, der von einem Journalisten befragt wurde, als die ersten demokratischen Wahlen stattfanden. „Weißt Du schon, wen Du nächste Woche bei den Wahlen wählen wirst?“ Der Arzt sagte: „Oh, das weiß ich noch nicht.“ Und der Journalist hakte nach: „Aber Du weißt doch, wer die Kandidaten sind?! Du musst doch langsam eine Entscheidung treffen.“ Daraufhin der Doktor: „Nein, ich habe noch gar keine Entscheidung getroffen.“ „Wann wirst Du Dich denn entscheiden?“ „Werde ich nicht.“ „Aber wirst Du denn wählen gehen?“ „Natürlich. Wir warten, bis Onkel John uns sagt, wen wir wählen sollen. Onkel John ist das älteste Mitglied unseres Stammes.“ „Also wählen alle aus Eurem Stamm den gleichen Kandidaten?“ „Natürlich. Machen wir schon immer so. Wir sind ein Stamm, also haben wir alle die gleiche Meinung – und der Ältestenrat des Stammes wird entscheiden, wen jeder von uns wählt.“ SO läuft das nämlich.

In Gambia sind sie beispielsweise stinksauer auf ihren Präsidenten, weil er aus einem rangesniedrigeren Stamm kommt. Aus deren Sicht ist alles, was er tut, schlecht, er wird regelrecht dämonisiert. Natürlich würde er genau das Gegenteil behaupten. Aber der größte Stamm hält gerade nicht die Macht…
Dieses „Prinzip“ findest Du in den unterschiedlichsten Ländern mit verschiedenen Stämmen, z.B. mit verschiedenen Abspaltungen von Sunniten und Schiiten… ja, ich interessiere mich sehr für diese Geschehnisse und ich schreibe auch viel darüber.

Gibt es irgendwelche jungen, neuen Bands oder Künstler, die Du besonders gut findest?

Ich denke, ich habe nicht das Recht, über junge Bands zu sprechen – denn ich komme nicht aus dieser Generation. Als wir unser erstes Album mit Deep Purple aufgenommen haben, kam mein Onkel herein, hörte den ersten Song, rannte wieder hinaus und rief „Das ist furchtbar! Das ist ganz schrecklich!“ … und ich fühlte mich spitze. Denn er war eben kein Teil von dem, was wir da machten. Einige ältere Leute sagten über unsere ersten Aufnahmen, dass sie ihnen wirklich ganz gut gefallen – und ich dachte mir: „Wie könnt ihr es wagen, auch nur ansatzweise verstehen zu wollen, was gerade in meinem Leben los ist!“ Du kannst zeitgenössische Kunst niemals objektiv beurteilen – es geht nicht, wenn Du kein Teil dieser Generation bist. Deswegen sage ich lieber nichts; es hat nichts mit mir zu tun. Aber sie haben meinen Respekt. Lassen wir sie einfach weitermachen!

Nach 20 Minuten ist der ganze Zauber auch schon wieder vorbei – viel zu schnell! Wir hätten noch jede Menge interessante Fragen im Gepäck gehabt, freuen uns aber auch, dass Ian Gillan unsere Fragen so ausführlich und ehrlich beantwortet hat. Auf Ian Gillan wartet schon der nächste Termin. Schnell noch ein paar Fotos, die er bereitwillig und gerne mit uns macht, ein kräftiger Händedruck und schon stehen wir wieder vor der Hotelzimmertüre des Mannes, der mit „Smoke on the Water“ oder „Highway Star“ Musikgeschichte geschrieben hat. Cool war es!

Interview S. Chmiel